Kapitel 36

Nat, 24. Juni 2009

 

Nachdem Richter Yee die Anwälte aus seinem Amtszimmer entlassen hat, kehren Marta und mein Dad und Sandy und ich ins LeSueur Building zurück, wo wir uns in Sandys großem Büro versammeln. Sandy, der seit Wochen wie der lebende Tod wirkt, versucht jetzt, meinem Dad zuliebe seine Euphorie zu zügeln. Aber er hat irgendwas an sich, wodurch er wieder so wirkt, als wäre er ganz der Alte. Ständig leuchten die Lämpchen an seinem Telefon auf, weil Reporter anrufen, und er erklärt ihnen, dass die Verteidigung vorläufig keinen Kommentar abgibt. Schließlich ruft er seine Sekretärin herein und sagt ihr, sie soll keine Gespräche mehr durchstellen.

»Die fragen alle dasselbe«, sagt Sandy. »Ob wir meinen, dass Molto die Anklage fallen lässt.«

»Wird er das?«, frage ich.

»Bei Tommy weiß man nie. Brand würde ihn wahrscheinlich eher an seinen Stuhl fesseln, als dass er das zulässt.«

»Molto wird nicht aufgeben«, sagt Marta. »Wenn es hart auf hart kommt, lassen sie sich irgendeine durchgeknallte Theorie einfallen, wie Rusty das selbst auf seinen Computer gezaubert hat.«

»Rusty ist schon seit vor der Anklageerhebung nicht mehr an den Computer rangekommen«, sagt Stern.

Er sieht meinen Vater an, der zusammengesunken in einem Sessel sitzt, zuhört, aber kaum etwas sagt. Seit anderthalb Stunden wirkt er von uns allen am tiefsten geschockt und in sich gekehrt. Vor Jahren habe ich im Rahmen eines Psychologieseminars mal eine psychiatrische Klinik besucht und dort einige Leute gesehen, an denen in den Fünfzigerjahren eine Lobotomie durchgeführt worden war. Ihnen fehlte ein Teil des Gehirns, und ihre Augen waren einige Zentimeter tiefer in die Höhlen gesunken. Mein Dad sieht jetzt ein bisschen so aus wie sie.

»Jede Theorie dieser Art würde nur peinlich für sie«, sagt Stern.

»Ich meine ja nur«, sagt Marta. »Und die Reporter gehen davon aus, dass es Barbara war?«

»Wer denn sonst?«, fragt Stern.

Diese Frage stelle ich mir schon seit anderthalb Stunden. Ich habe mich vor langer Zeit von dem Gedanken verabschiedet, meinen Vater oder meine Mutter wirklich verstehen zu können. Was sie füreinander oder in jenen Bereichen ihres Lebens waren, die mit meinem nicht in Berührung kamen, wird sich mir niemals erschließen. Es ist so, als würde man herausfinden wollen, wie irgendwelche Schauspieler hinter ihren Filmrollen in Wirklichkeit sind. Wie viel davon entspricht ihnen? Wie viel ist gespielt? Anna behauptet, dass es ihr mit ihrer Mom ähnlich ergeht.

Aber wenn ich mir die Frage stelle, ob ich es ernsthaft für möglich halte, dass meine Mutter sich umgebracht und alles so arrangiert hat, damit mein Vater für ihren Tod vor Gericht gestellt wird - wenn ich mich das frage, überfällt mich die grausame Erkenntnis, dass irgendein tief in meinem Inneren verborgenes Messinstrument diese Möglichkeit als absolut glaubwürdig einstuft.

Und es passt alles zusammen. Deshalb sind nur Fingerabdrücke von meinem Dad auf dem Phenelzinfläschchen. Deshalb hat sie ihn losgeschickt, um Wein und Käse zu kaufen. Deshalb wurden die Spuren der Phenelzinrecherchen auf seinem Computer nicht mit der Schredder-Software entfernt.

»Aber warum hat sie sich dann mit einem Mittel vergiftet, das als Todesursache leicht übersehen wird?«, fragt mein Vater. Das ist sein erster richtiger Beitrag zu dem Gespräch.

»Tja, ich glaube«, sagt Sandy - er verstummt, um kurz trocken zu husten -, »dass es so noch belastender ist. Und natürlich verweist es irgendwie auf den Fall Harnason, bei dem Sie den Vorsitz hatten und über den Barbara gut informiert war.«

»Es ist nur dann belastend«, entgegnet mein Vater, »wenn es entdeckt wird.«

»Auftritt Tommy Molto«, antwortet Stern. »Bei eurer Vergangenheit, würde Tommy da tatsächlich zulassen, dass der vorzeitige Tod einer weiteren Frau, die Ihnen nahesteht, ohne gründliche Ermittlung zu den Akten gelegt wird? Barbara hat Tommy zweifellos als Ihren eingeschworenen Feind betrachtet.«

Mein Vater schüttelt einmal kurz den Kopf. Anders als seine Anwälte ist er nicht vollständig überzeugt.

»Warum hat sie nicht ihren Namen druntergesetzt?«, fragt er.

»Weil es auch so offensichtlich ist, oder?«

»Und wieso hängt sie mir die Sache zuerst an und holt mich dann so wieder raus aus der Patsche?«

Sandy blickt mich an, nicht um zu sehen, wie ich reagiere, sondern als Demonstration.

»Rusty, Sie wieder auf die Anklagebank zu bringen war eine exquisite Vergeltung für Ihre Untreue. Aber Sie für den Rest Ihres Lebens hinter Gitter zu bringen, das wäre zu weit gegangen, vor allem mit Rücksicht auf Nat.«

Mein Vater denkt darüber nach. Sein Verstand arbeitet offensichtlich langsamer als sonst.

»Es ist ein Trick«, sagt mein Vater dann. »Wenn es von Barbara stammt, ist es ein Trick. Wie mit unsichtbarer Tinte. Sobald wir uns drauf verlassen, tut sich irgendwas auf, was wir jetzt übersehen.«

»Tja«, sagte Sandy, »das mussten aber dann Matteus und Ryzard rausfinden können.« Er ist der Einzige, der sich weigert, die beiden Computerexperten Hans und Franz zu nennen.

»Die werden nicht besser sein als sie«, sagt mein Vater mit Nachdruck.

Mein Dad besänftigte meine Mom stets, indem er sie mit Komplimenten überhäufte. Über ihre Kochkünste. Ihr Aussehen. Ich glaube, sie waren alle ehrlich gemeint, wenngleich es ihn im Grunde ärgerte, dass sie überhaupt Lob brauchte. Aber eines sagte er immer mit absoluter Aufrichtigkeit: »Barbara Bernstein ist der intelligenteste Mensch, den ich kenne.« Daher geht er jetzt davon aus, dass sie jedem hier im Raum gedanklich voraus war. Es ist beinahe rührend, würde sich dahinter nicht die Überzeugung verbergen, dass die Absichten meiner Mutter letztlich längst nicht so gutartig waren, wie Stern soeben vermutet hat. Sie hatte nicht bloß vor, ihm Angst einzujagen, meint mein Dad. Sie spielt noch aus dem Grab heraus ein bösartiges Spiel mit ihm.

Etwa zehn Minuten später meldet Sandys Sekretärin, dass Hans am Telefon ist. Die Experten sind mit der Untersuchung des Computers fertig. Selbst Gorvetich hält die Weihnachtskarte für echt. Sie wurde an dem Nachmittag erstellt, bevor meine Mom starb, allem Anschein nach nur wenige Minuten, ehe Anna und ich zum Abendessen kamen. Stern informiert das Büro des Richters, und alle Anwälte werden zurück zum Gericht beordert, damit die drei Computerexperten Richter Yee Bericht erstatten können. Wir brechen auf und steigen unten in der Garage in Sandys Cadillac, um das kurze Stück zurückzufahren.

»Schlechter Tag für Tommy«, sagt Marta. »Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als Gorvetich ihm gesagt hat, dass die Karte echt ist.«

Jeder in Sterns Büro war davon ausgegangen, dass die Experten zu diesem Urteil gelangen würden. Wir wussten alle, dass mein Dad weder die Zeit noch die technischen Fähigkeiten hatte, so etwas zu inszenieren.

Der Gerichtssaal wirkt wie eine Geisterstadt, als wir dort ankommen. Wochenlang herrschte hier heilloses Gedränge, die Bänke im Zuschauerraum waren bis auf den letzten Platz besetzt, doch anscheinend haben weder die Reporter noch die Hobbyjuristen, die sich auf der Suche nach Zerstreuung interessante Prozesse anschauen, schon erfahren, dass sich etwas tut. Marta und Sandy gehen zu Hans und Franz und sprechen kurz mit ihnen, werden aber unterbrochen, als Richter Yee hereinkommt.

Dr. Gorvetich ist knapp über ein Meter sechzig groß, hat krauses weißes Haar, das aus verschiedenen Stellen seiner Kopfhaut sprießt, einen zotteligen Ziegenbart und einen üppigen Bauch, der nicht mehr in sein billiges Sportjackett passt. Er ist in Turnschuhen hier aufgetaucht, was wohl damit zu entschuldigen ist, dass er so kurzfristig herbeizitiert wurde. Auch Hans und Franz tragen Freizeitkleidung. Matteus ist älter und größer, aber sie sind beide schlank und fit und modisch gestylt. Ihre Hemden hängen über den Designerjeans, und ihr Haar ist gegelt. Die Anwälte haben sich darauf geeinigt, dass Gorvetich mit dem Richter sprechen soll - schließlich müssen seine Auftraggeber hier die bittere Pille schlucken.

Die Weihnachtskarte, so erklärt er, ist eine herkömmliche Grafikdatei, die in Zusammenhang mit einem Hinweis geöffnet wird, der am Neujahrstag 2009 angezeigt werden sollte. Das erklärt, warum die Sachverständigen beider Seiten bei den verschiedenen forensischen Untersuchungen des Computers, die Anfang Dezember durchgeführt wurden, nicht auf die Karte aufmerksam wurden.

Die Tatsache, dass die Botschaft für die Zeit nach Weihnachten gedacht war, spricht für mich Bände, denn dann herrschte bei mir zu Hause immer schon eine brisante Stimmung. Meine Mutter war jüdisch erzogen worden und entzündete jedes Jahr mit mir Chanukkakerzen, aber das geschah hauptsächlich aus Trotz. Meine Mom mochte generell keine religiösen Feste, und aus irgendwelchen Gründen war ihr Weihnachten ganz besonders verhasst. Für meinen Dad war Weihnachten dagegen in seiner Kindheit einer der wenigen Lichtblicke im Jahr gewesen, und er freute sich auch als Erwachsener darauf. Vielleicht war für meine Mutter das Schlimmste dabei, dass die Serben Weihnachten erst am 7. Januar feiern, was bedeutete, dass die Weihnachtszeit sich scheinbar endlos lang hinzog. Ganz besonders zuwider waren ihr die traditionellen Weihnachtsessen, zu denen wir regelmäßig von den verrückten serbischen Vettern meines Vaters eingeladen wurden, weil es unweigerlich Schweinebraten gab, die Feste oft unter der Woche stattfanden, wenn ich am nächsten Tag zur Schule musste, und weil alle sich mit Slibowitz betranken. Meistens herrschte anschließend bis in den Februar hinein Funkstille zwischen ihr und meinem Dad.

»Wir haben die Registrierungsdateien auf dem Computer überprüft und dabei besonders die .pst-Datei unter die Lupe genommen, die die Kalenderobjekte enthält«, erklärt Gorvetich. »Das Erstellungsdatum für ein Objekt ist in dem Objekt selbst enthalten. Die .pst-Datei gibt zudem das Datum an, wann das Kalenderprogramm zuletzt in irgendeiner Weise genutzt wurde, auch wenn es lediglich geöffnet wurde. Das angegebene Erstellungsdatum für das fragliche Objekt ist der 28. September 2008, die Uhrzeit 17.37 Uhr.

Ich kann dem Gericht also zum jetzigen Zeitpunkt sagen, dass das Objekt allem Anschein nach echt ist. Da die Datei heute Morgen im Gericht geöffnet wurde, wovon ich abgeraten hätte, zeigt die .pst-Datei nun leider das heutige Datum an. Aber wir haben alle unsere Unterlagen durchgesehen, und als beide Parteien den Computer im Herbst vergangenen Jahres überprüften und ein Festplattenimage erstellten, zeigte die .pst-Datei den 30. Oktober 2008 an, also ein Datum, das einige Tage vor der Beschlagnahmung des Computers lag. Wie ich schon in meiner Zeugenaussage bemerkte, enthält das Register nach dem Benutzen einer Schredder-Software Datenmüll, aber der wurde von beiden Parteien festgestellt, als sie das Festplattenimage im Dezember untersuchten.«

Tommy Molto erhebt sich. »Euer Ehren, darf ich eine Frage stellen?«

Yee hebt eine Hand.

»Könnte jemand nach Oktober irgendwie an den Computer rangekommen sein, die Uhr zurückgestellt und diese Karte angelegt haben?«, fragt Molto.

Brand weiß offensichtlich, dass das unmöglich ist, und greift nach seinem Boss. Hans und Franz reagieren beide mit Kopfschütteln, und Gorvetich verneint die Frage.

»So funktioniert das Programm nicht. Um eine ordnungsgemäße Kalenderfunktion zu sichern, kann die Uhr innerhalb des Programms nicht zurückgestellt werden.«

Richter Yee klopft mit seinem Stift auf die Kladde vor ihm auf der Richterbank.

»Mr Molto«, sagt er schließlich, »wie geht es jetzt weiter?«

Tommy steht auf. »Euer Ehren, wenn Sie gestatten, werden wir uns das bis morgen überlegen.«

»Okay«, sagt der Richter. »Neun Uhr zum Gespräch. Geschworene in Bereitschaft.« Er lässt seinen Hammer knallen.

Ich komme auf die Beine und warte, um mit meinem Vater rauszugehen. Obwohl er morgen wahrscheinlich freikommt, blickt mein Dad, das ewige Rätsel, immer noch ernst.

 

Der letzte Beweis
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